Florian Thate — SOLO

14. Februar 2016 bis 13. März 2016
Merdinger Kunstforum/Haus am Stockbrunnen

Ein Text von Jana Schmidt (Schauwerk, Sindelfingen)

Das Ausgangsmaterial der Arbeiten von Florian Thate sind häufig industriell gefertigte Produkte, wie Platten aus Stahl, Metall und Holz, Kartonagen oder diverse Landkarten, die ohne weiteres käuflich erworben werden können. Im künstlerischen Prozess werden sie mit verschiedenen Zeichengeräten bearbeitet, die ihre spezifischen Spuren hinterlassen. Der Bearbeitungsprozess ist dabei meist mit einem direkten, intensiven, kraftvollen körperlichen Einsatz des Künstlers verbunden. Er legte beispielsweise 2012 zwischen zwei gleichgroße, schwarzlackierte Metallplatten Kies- und Sand und bearbeitete diese mit Händen und Füßen. Die prozesshafte Aktion, die mit dem Erreichen des Erschöpfungszustandes des Künstlers ihr Ende fand, schrieb sich unmittelbar, in Form von groben, energievollen Arbeitsspuren, in die Platten ein. Dieser Vorgang wurde mehrmals durchgeführt, so dass eine Werkgruppe entstand. Physische Anstrengung ist bei vielen Arbeiten Thates wesentliches Element des künstlerischen Entstehungsprozesses. Bei einem Werk von 2015, angelegt als Serie, wurde die Oberfläche einer Metallplatte zunächst mit Farbe lackiert, um diese dann mit Spitzhacke, Schaufel und Steinen wieder abzukratzen. Durch das kraftvolle bloßlegen der Oberfläche treten deutlich sichtbare, teils zeichenhafte Spuren zu Tage und der Betrachter wird Zeuge der direkten, spontanen Bewegung des Künstlers.

Dass aus diesen Arbeiten, trotz ihres im ersten Moment rohen, archaisch anmutenden Charakters, etwas zugleich Empfindsames spricht, wird anschaulicher, wenn den Arbeiten auf Metall auch jene älteren Werke aus Karton oder Papier gegenübergestellt werden. Seine frühen Papierarbeiten, oft Landkarten, überzeichnete Thate mit einem Grafitstift und trieb hier nicht nur sich, sondern insbesondere das Material an die Grenzen des Möglichen. Fast porös wurde das Papier im Laufe seiner Übermalung, die dazu führte, dass der ursprüngliche Sinn der Karte – ihre Les- und Nutzbarkeit – überschrieben wurde und verloren ging.

Bei alledem sind die Werke Thates nie nur für sich isoliert zu betrachten. Körperkraft, Serialität, Rhythmik, aber auch der Umraum selbst, stehen im Blickfeld des Künstlers. So interagieren die Arbeiten sowohl in subtiler, stiller Weise mit dem Raum, indem sie mit ihren zerfurchten Oberflächen sensibel auf Licht und Schatten reagieren, als auch in konkreter Weise, wenn Thate sie sich in den Raum ausdehnen lässt und der reale Raum selbst Teil des Kunstwerkes wird. Dieses Vorgehen ist kein ungewohntes Terrain für den Künstler. Bereits für das Projekt „Hotel California“ von 2013 stand die Wechselwirkung von eigener Kraft, Bewegung, Material und Raum im Vordergrund. Für eine Woche lebte und arbeitete Thate im Offenburger Kunstverein. Dort bearbeitet er täglich mit einem Grafitstift eine Wand des Ausstellungsraumes, bis er ans Ende seiner Kräfte gelangte. Die Zeichnung erweiterte sich kontinuierlich und erstreckte sich im Laufe der Woche in den Raum hinein. Das Resultat war durch die räumliche Struktur und die körperliche Konstitution geprägt. Auch im Freiburger Pförtnerhaus der Brauerei Ganther, ein Off Space Raum, den Thate zusammen mit Jürgen Oschwald, einem Künstler aus Freiburg betreibt, arbeitete er in situ. Mit einem vorgefundenen Kornkorken kratzte er im Dezember 2015 seine Bewegungen, in einem Format von 40 x 30 cm, direkt in die Ausstellungswand (die Arbeit ist ausschnitthaft auf dem Ausstellungsflyer abgebildet). Die darunterliegenden Farbschichten wurden Stellenweise offen- und freigelegt; die abgekratzten, auf den Boden gefallenen Farbreste blieben liegen und hinterließen ebenfalls Spuren, die durch die Besucher wiederum weitergetragen wurden. Die ephemere, ortsbezogene Arbeit verschwand nach Beendigung der Ausstellung wieder, kann aber durchaus an anderer Stelle erneut ausgeführt werden. Auch vor Ort zeigt sich sein Interesse für den konkreten Ausstellungsraum deutlich. Präzise Setzungen lenken die Wahrnehmung auf die räumliche Beschaffenheit. Thate befragt und definiert den bekannten Raum neu.

Die hier ausgestellte Serie mit dem Titel „2015“ unterliegt, wie auch bereits erwähnte Werke, gleichbleibenden, objektiven Rahmenbedingungen, die Teil seiner konzeptuellen Entscheidung sind. Eine Direktive, die Thate vorab festlegt, ist die immer wiederkehrende Verwendung eines fertig zugeschnittenen Materials, in diesem Fall Pappelholz. Die Holzplatten, die es als serielle Massenware im Fünferpack zu kaufen gibt, haben jeweils die gleiche Stärke und das identisch klassische A5 Format von 21 x 14,8 cm. Die Wahl eines gewöhnlichen, industriell und in Serie produzierten Produktes sowie die schlichte, geometrische Grundform des Rechtecks lassen mit ihrem Potenzial für Reihung und Wiederholung an die künstlerischen Prinzipien der Minimal Art denken: Einfache, reduzierte Formen, die nach Objektivität und schematischer Klarheit streben. Thates Umgang mit dem Ausgangsmaterial distanziert ihn jedoch von der Minimal Art. Er versucht nicht, die Kunst zu Entpersönlichen, jeden subjektiven Eingriff zu vermeiden, sondern macht im Gegenteil genau diesen zu einem elementaren Faktor.

Das weiche Pappelholz erlaubt einen präzisen Bearbeitungsprozess. Die Holzplatten werden von Thate jedoch nicht mit klassischen Zeichengeräten, wie Pinsel, Stift oder Tusche bemalt, sondern mit diversen individuell ausgewählten Fundstücken bearbeitet, zum Beispiel mit Zangen, Cuttern, Nägeln, Aststücken, Kronkorken, etc.. Gegenstände, die gerade zur Verfügung stehen und sich zum zerkratzen von Oberflächen eignen. Thate fügt der Platte nichts hinzu, überdeckt nichts, sondern überführt seine Bewegung in eine Linie, die etwas wegnimmt, die das Material zerstört und so Freiraum für Neues schafft.
Wenngleich das fertige Werk mit dem Raum interagiert, ist der eigentliche Entstehungsprozess nicht ortsgebunden. Die Platten können an jedem beliebigen Ort, zu jeder beliebigen Zeit entstehen. Relevant ist dabei, dass die Oberflächen in regelmäßigen Abständen bearbeitet werden, die Spielregel lautet mindestens zwei pro Woche. Aber je nach körperlicher Ausdauer (Fitness und Tagesform), Konzentration und Zeit können auch bis zu zehn Platten in der Woche entstehen. Damit wird der Prozess als Konstante in den Lebensalltag des Künstlers integriert und es findet eine Verschränkung zwischen Kunst und Leben statt. Auch das bewusste sich Zeit nehmen für die Bearbeitung ist essentiell und kommt einer festgelegten Regel gleich. Während der Durchführung ist die Konzentration auf die Tätigkeit und damit auf das Hier und Jetzt fokussiert. Es findet eine intensive Verortung im Moment des Augenblicks statt. Der Zeitraum des aktiven Tuns variiert, da manche Zeichengeräte nur unter Aufwendung von großem Druck funktionieren, andere hingegen hinterlassen bei bereits wenig Krafteinsatz Spuren. Die jeweilige Holzstruktur, wie dunkle Astlöcher oder markantere Maserungen, wird mit neuen Strukturen verändert und überschrieben. Bedeutend ist, dass die Holzplatten jeweils in einer Konzentrationsphase, ohne Nachbearbeitung, erstellt werden.

Die einzelnen Platten sind auf der Rückseite fortlaufend nummeriert, mit dem jeweiligen Entstehungsdatum, dem Künstlernamen und dem verwendeten Werkzeug versehen. Damit legt der Künstler eine Ausrichtung der Platten fest: Es gibt ein klar definiertes Unten und Oben sowie eine chronologische Abfolge, so dass eine Leserichtung vorgegeben wird. Während des Prozesses entstand die Spielregel die Arbeit auf das gesamte Jahr 2015 auszudehnen, womit zugleich ein klar abgesteckter Zeitraum festgelegt wurde. Mittlerweile arbeitet Thate an einem zweiten Zyklus.
Die Serie von 825 Platten kann nach Vorgabe des Künstlers auf unterschiedliche Art und Weise, als Reihe oder Block präsentiert werden. Falls Ausschnitte als Stellvertreter ausgewählt werden, müssen diese in der Reihenfolge ihres Entstehungsdatums zu sehen sein. Die Platten werden schräg auf Aluwinkel, die alle Lichtreflexe eliminieren, gestellt. Diese Präsentationsform erzeugt einen installativen Charakter und ist zudem vom jeweiligen Ausstellungsort abhängig. So kann die Serie in immer wieder neuem Zusammenspiel aus variablen Ausschnitten ein jeweils anderes Werk ergeben. Thate hält somit zum einen die Interaktion mit dem vorgefundenen Ausstellungsraum offen, zum anderen schreibt sich der Arbeit eine besondere Dynamik ein: Es lassen sich immer wieder neue Bezüge erkennen, denken, die eine offene, nicht vollendete Lesart ermöglichen.
Die Holzplatten gewinnen mit der kontinuierlichen Einschreibung von Thates Bewegung eine haptische, bisweilen sogar dreidimensionale Qualität, was sie aus der Funktion eines reinen Bildträgers löst. Überdies lässt die individuelle Gestik ein komplexes Gefüge aus unterschiedlich kraftvollen Linien und Furchen entstehen. Trotz der, im ersten Moment als ähnlich zu beschreibenden Tätigkeit, entsteht nie eine gleiche, statische „Zeichnung“. Das Ergebnis der körperlichen Aktion ist immer ein Anderes. Die Unmöglichkeit der gleichen Wiederholung macht die Arbeit zu einem nicht steuerbaren Prozess. So ist das Werk, trotz der von Thate festgesetzten Direktiven, zugleich auch von großer Offenheit geprägt, da der Künstler der ästhetischen Kontrolle der äußeren Rahmenbedingungen einen möglichst freien und unzensierten Ausdruck innerer Vorgänge entgegensetzt. Denn das, was sich während des Bearbeitungsprozesses in die Holzplatten einschreibt, folgt teils dem Unterbewusstsein und ist damit bis zu einem gewissen Grad dem Zufall überlassen. Assoziationen zur „écriture automatique“, einer Methode des Schreibens bei der vor allem die Authentizität des Einfalls in einem Zustand spontaner Wahrnehmungskonzentration im Vordergrund steht, sind durchaus naheliegend.

Sein diszipliniertes, regelmäßiges, fast mechanisches Vorgehen zeigt Konsequenz, hat etwas Beharrliches und lässt sich beinahe wie ein Tagebuch „lesen“. Assoziationen zu anderen seriell arbeitenden Künstlern, etwa an den Konzeptkünstler Roman Opalka mit seinen fortlaufenden Zahlenreihen oder an On Kawara mit seinen konzeptuell reduzierten Datumsbildern und natürlich auch an Peter Dreher mit seinen Wasserglasserien wären möglich. Sie alle setzten sich in ihrem künstlerischen Werk mit serieller Wiederholung und der Sichtbarmachung von Zeit oder der Frage nach Zeitlichkeit auseinander.
Nicht nur das offenkundige Interesse an serieller Reihung, an Wiederholung, an Prozesshaftigkeit und den damit verbundenen physischen Aspekten, wie etwa das Bewusstmachen des eigenen Körpers und das Ausloten dessen Grenzen, sondern auch die Beschäftigung mit dem Thema Zeit ist an den Arbeiten des Künstlers bemerkbar. Thate schreibt den Akt der momentanen, subjektiven Empfindung, seine Konzentration und jeweilige körperliche Konstitution in die Platte ein. Mit der eingegrabenen Bewegung entsteht eine visuell ablesbare Form der Handlung im Holz, die man als real fassbare Materialisierung von Zeit assoziieren könnte. Damit macht er für den Betrachter Spuren von Zeit sichtbar und bietet zugleich eine Erfahrungsmöglichkeit von Zeitlichkeit an. Die Kerben, Aufnahmen aus akkumulierter Zeit, fügen sich in Kombination mit den anderen Platten des gesamten Jahres zu einem „Zeit-Bild“ zusammen. Der Künstler selbst spricht von „Momentaufnahmen sichtbar gewordener Zeit“. So geht es hier nicht nur um ein Veranschaulichen von Zeit und um ein Nachdenken darüber, sondern ebenfalls um die Frage nach dem Wesen der Wirklichkeit und der Überlegung, was Kunst zu ihrer Ergründung leisten kann: Thate deutet hier eine mögliche Antwort an, wenn er in seiner Arbeit deutlich macht, dass es nicht nur darum geht, das Wesen der Realität zu fixieren, sondern allenfalls ihren flüchtigen, ständig wechselnden subjektiven Schein.

Für die Betrachtung der Serie braucht man ebenfalls Zeit und Ruhe. Täglich rauschen mit unglaublicher Geschwindigkeit mediale Bilder an uns vorbei. Der reizüberflutete Betrachter ist oft einen schnellen, hektischen Bildwechsel gewohnt. Die Arbeiten von Thate stehen im Kontrast zu dieser Entwicklung. Sie schreien nicht nach dem kurzlebigen Effekt, sondern sensibilisieren mit ihrer scheinbar reduzierten Ästhetik zu einem genauen Hinsehen, zu einem vergleichenden Sehen. Sie fordern die unmittelbare Aufmerksamkeit des Rezipienten ein. Jede Platte, ähnlich ihrer formalen Eigenschaften, steht gleichberechtig, demokratisch neben der Anderen. Es gibt keine Wertigkeit, keine Hierarchie. Alles was in diesem Jahr in die jeweilige Platte, an dem jeweiligen Tag eingekratzt wurde, hat seine Berechtigung, ist präsent. Trotz der klaren und minimalistisch reduzierten Formensprache kommt das sehr persönliche Element, die Bewegung des Künstlers, hinzu, was dem Betrachter mit dem Abschreiten der Sequenzen der Serie immer wieder neue, ausdruckstarke, überraschende und variationsreiche Kompositionen eröffnet. Damit vollzieht sich die Betrachtung der Arbeit raumzeitlich; die strukturellen Wiederholungen lassen sich nicht rein visuell erfassen, sondern verlangen in ihrem Wechselspiel von Wiederholung und Differenz, nach der Bewegung des Betrachters, dem sich die serielle Abfolge somit je nach Präsentation und Perspektive unterschiedlich erschließt und ein vergleichendes Moment einfordert.
Abschließend gesagt, besteht Thates künstlerische Vorgehensweise aus einem System von konstanten, automatisierten und variablen Komponenten, wobei für den Künstler die intensive Auseinandersetzung mit den Aspekten Material, Raum, Bewegung, Körperkraft und Zeit, dem Verhältnis dieser Elemente zueinander und derer möglichen Darstellbarkeit charakteristisch ist. Konzeptionelle Entscheidungen, wie die Festlegung von Format und Material, die konsequente Regelmäßigkeit der repetierenden Handlung und das damit verbundene Interesse an serieller Reihung, die Konzentration auf die Tätigkeit werden spannungsvoll verschränkt mit einer Offenheit für das Unvorhersehbare, das dynamisch Prozesshafte und Zufällige, die mit dem jeweiligen physischen Körpereinsatz des Künstlers einhergeht. Diese Offenheit findet auch auf der Ebene des Rezipienten ihre Entsprechung, da sich mit der eigenen Bewegung immer andere vielschichtige und bedeutungsoffene Wirkungen ergeben. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Freude bei der Betrachtung und eigenen Annäherung an die Arbeiten von Florian Thate.